Ihr Vater war kurzsichtig und weitsichtig. Er konnte hellsehen und sah meistens schwarz.



"Unterhaltungsliteratur ist das nur im weitesten Sinne, wohl aber ein beunruhigendes, sehr lesenswertes Buch."

(Ruth Klüger)







Tochter und Vater

Roman


269 Seiten

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2011


Nach ihrem Bestseller »Familienleben« schreibt Viola Roggenkamp in ihrem Roman »Tochter und Vater« die Geschichte der deutsch-jüdischen Hamburger Familie fort.

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Lichtvertiefte Finsternis

Rezension von Ruth Klüger – Literarische Welt

Ein alter Mann stirbt in Hamburg, seine Tochter will eine Rede bei seinem Begräbnis halten und bereitet sich einen Roman lang darauf vor. Bei der Leichenfeier, ein paar Tage später, am Ende des Buchs, ist sie so besessen von der Furcht, ihr Bügeleisen beim Verlassen der Wohnung nicht abgestellt zu haben, daß sie vergißt, die vorbereitete Ansprache zu halten. Dieser Rahmen, der Tod und Trivia paart, ist wie ein schwarzer Witz, der einen tragischen Inhalt umkreist, nämlich das bedrohte Leben der Eltern der Heldin in der Nazizeit und die Konsequenzen nach dem Krieg.

Wie in ihren anderen Büchern beschwört Viola Roggenkamp auch in „Tochter und Vater“ das oft beschworene Paradoxon einer deutschjüdischen Symbiose herauf, die nicht stattgefunden und doch stattgefunden hat, nicht stattfinden wird und doch immer wieder stattfindet. Roggenkamp hat dieses Verhältnis mehrfach behandelt, vor allem in ihrem ersten Roman, dem Bestseller „Familienleben“, der vom Standpunkt eines Kindes eine deutsch-jüdische Ehe in der deutschen Nachkriegswelt beschrieb, es dann auch in ihrem Sachbuch über das verdrängte jüdische Erbe der Familie Thomas Manns kritisch durchleuchtet und wieder aufgenommen in dem Roman „Die Frau im Turm“, über die Mätresse Augusts des Starken, die angeblich zum Judentum konvertierte. In einem Interview zu ihrem ersten Roman sagte die Autorin: „Jüdisch zu sein und deutsch, das kann es nach der Schoa eigentlich gar nicht geben. So war nach 1945 bis weit in die 90er-Jahre hinein das Lebensgefühl in jüdisch-deutschen Familien. Es dennoch zu sein, jüdisch und auch deutsch, diesen Zwiespalt, diese Zerrissenheit als ihren eigenen Ort anzuerkennen, sowohl im Gegenüber zu den Deutschen als auch und gerade im Gegenüber zu nichtdeutschen Juden: Darum geht es im Leben jüdisch-deutscher Nachgeborener.“

Der neue Roman knüpft indirekt an den ersten an. Diesmal ist die Heldin eine erwachsene Frau, die ihren Wurzeln nachspürt und gleichzeitig ihr einsames Leben ändern will. Ihre jüdische Mutter, die den deutschen Vater überlebt und für das Begräbnis verantwortlich ist, heißt Alma, wie die Mutter in „Familienleben“, auch der Vater hat seinen Vornamen Paul aus dem früheren Buch. Doch die Tochter, die Protagonistin, wird nie beim Namen genannt. Diese Anonymität, scheint mir, erleichtert das Durchspielen der verschiedenen Zeitebenen; der ausgesparte Name ist wie eine negative Verdinglichung der Verstrickungen der Nazizeit mit denen der Gegenwart. Es bleibt etwas Undurchdringliches, Irritierendes, das uns fehlt, eine Fiktion, die sich nicht mit der Wirklichkeit deckt.

Die Tochter fährt von Hamburg nach Krakau, eine Reise, die der Vater unter den abenteuerlichsten und gefährlichsten Bedingungen während des Krieges zweimal unternommen hat. Ihr Wissen über das frühe Liebes- und Eheleben ihrer Eltern war unvollständig, so oft sie auch darüber gesprochen hatten, denn: „Die wenigen jüdischen Freunde hasteten durch eigene Grabkammern, und drängte unter schweren Steinplatten Gewesenes nach oben, verstummten ihre Eltern.“ Nach Pauls Tod unternimmt es seine Tochter nun, die Lücken aufzufüllen, indem sie seine alten Kameraden aufstöbert. Aber die Gegenwart läßt sich nicht ausschalten, und ihr eigenes Leben geht auf schiefen Bahnen weiter. Gleich am Anfang der Reise verursacht sie einen Verkehrsunfall und begeht Fahrerflucht, wofür sie verurteilt wird, wenn auch nur zu einer Geldstrafe. So wird das Thema Flucht in den verschiedensten Variationen durchgespielt. Ihr fragmentarisches Liebesleben steht im Kontrast zum engen, wenn auch verängstigten Ehebund der Eltern. Und was die Karriere betrifft, so ist die Vorstrafe eine schlechte Voraussetzung für ein Jurastudium, das sie abgebrochen hat, aber wieder aufnehmen möchte. Die Gegenwart läßt sich so wenig ordnen wie die Vergangenheit, vor allem, weil die letztere auf der ersteren lastet.

In Krakau war der Vater während des Kriegs von einer Firma angestellt, die Raubgut für das Reich verwaltete. Unsere namenlose Protagonistin sucht die Menschen auf, die ihn damals kannten, Deutsche und Polen, Antisemiten und Widerstandskämpfer, immer auf der Suche nach Pauls eigentlichem Charakter. War er schuldig? Er hat drei jüdische Menschen – Frau, Schwiegermutter, Kleinkind – gerettet, aber was hat er preisgegeben? Sie fragt sich, „wie oft ihr Vater Heil Hitler gesagt haben mußte. Diese Peinlichkeit, diesen unanständigen Ausdruck damaliger Wirklichkeit, hatte sie vor sich verborgen gehalten.“ Was sie herausfindet, ist allerdings schlimmer als der verdrängte Hitlergruß. Er, der Nichtjude, hat zwar, wie sie schon immer wußte, alles für seine Familie aufs Spiel gesetzt, aber er hat in Krakau Geld verdient im Schleichhandel mit Raubgut aus jüdischem Besitz. Er war ein Held, und gleichzeitig war er ein Mitläufer und manches Mal ein Feigling. Wo sie hingeht, mit wem sie auch spricht, stößt sie auf unentwirrbare Fäden. Sie sieht sich konfrontiert mit der Widersprüchlichkeit eines Lebens, in dem ein Mann einerseits dem Regime zuwider handelte und andererseits mit den herrschenden Verbrechern mitgelaufen ist und samt seiner Familie von deren Ausbeutung profitierte. Denn es ging ihnen gut. In nächster Nähe von Auschwitz ging es ihnen, dank der Enteignung jüdischen Eigentums, eine Zeit lang aus-gesprochen gut.

Die Tochter hat am Ende herausgefunden, wonach sie suchte, und beginnt, sich ihrem eigenen Leben zu widmen. Doch die Schatten bleiben, und die Autorin erlaubt auch ihren Lesern nicht, einen befriedigenden Abschluß zu finden. Dank ihrer Kontaktarmut und einseitigen Besessenheit ist die Protagonistin uns Leserinnen auch nie besonders sympathisch geworden. Mir fällt ein paradoxes Apercu (von Goethe? von Kafka?) ein, über eine „lichtvertiefte Finsternis“. Unterhaltungsliteratur ist das nur im weitesten Sinne, wohl aber ein beunruhigendes, sehr lesenswertes Buch.

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Acht Jahre lang täglich ein Held

Rezension von Hans-Jürgen Schings – Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Der neue Roman von Viola Roggenkamp, erzählt von einer wohlorganisierten, wenn auch nicht ganz fertig studierten Juristin, hat die luzide klassische Bauform einer analytischen Geschichte. Während der Vater an Lungenkrebs stirbt - wo gibt es eine so unsentimentale und doch zarte Beschreibung eines Sterbenden? -, übergibt er der Tochter sein Vermächtnis in Form einer Brieftasche mit Einzelstücken, die sie auf eine Suchreise in die Erinnerung schicken, bis daraus eine wirkliche Autofahrt in die Vergangenheit und nach Polen wird.

Da sie eine Totenrede halten will, kommen ihr neben umfangreichen, aber lückenhaften Aufzeichnungen des Vaters die Funde aus der Brieftasche nach und nach zu Hilfe. Ein Notizbuch, eine gefälschte Kennkarte, ein Zettel mit unverständlicher Aufschrift, eine Złoty-Note, ein jüdisches Türzeichen, die Mesusa: Alles wird zum Auslöser von Erkennungen, die, auf dem Höhepunkt der Erzählung, in schwerer emotionaler Belastung vor sich gehen. Anagnorisis (Wiedererkennung) nannte schon Aristoteles dieses Verfahren, lobte es und dachte an den „Ödipus“. Hier freilich regiert nicht das ödipale Elend, das üblicherweise mit dieser Form verbunden ist. Wo sich sonst die Familienunseligkeiten überstürzen, hellen sich hier die schwierigsten Verhältnisse auf.

Die Eltern - ein wunderbares Paar der unerschütterlichen Liebe; der Vater - kein Schlappschwanz, Feigling und müder Versager, wie man meint, sondern in Wahrheit ein Held, obwohl das Wort nicht paßt, „acht Jahre lang täglich, alltäglich ein Held“, vielleicht der einzige Gerechte unter den Deutschen; die Tochter - kein Wunder, daß sie trotz allen Widerstrebens ein neues Einverständnis mit ihrer doppelten Identität gewinnt. Der filmreife Detektivroman der Erinnerung, den Viola Roggenkamp schreibt, ist ein Anti-Ödipus.

Seine Brisanz erhält das kompositorische Kunststück durch die jüdisch-deutsche Katastrophengeschichte, der es eingefügt wird. Paul, der Vater, ist Deutscher, die Mutter Alma und die Großmutter Hedwig sind Jüdinnen. Ihre Geschichte spielt in den dreißiger und vierziger Jahren unter den Bedingungen von Krieg und Terror, steht eigentlich permanent unter Todesgefahr und wird doch begünstigt von einem schier unfaßbaren Glück, das alle heil davonkommen läßt. Der seltsame Schmied dieses Glücks ist der Vater. Verliebt und nichts sonst - „Er las viel, und er weinte gern beim Lesen“, heißt es über ihn -, wird er zum Genie der List, die selbst die Nazis in ihrer Berliner Gestapo-Zentrale außer Gefecht setzt und aus gefälschten und geraubten Scheinen und Dokumenten, Stempeln und Pässen ein Netz neuer Identitäten aufbaut, das bis zum Kriegsende hält und die Jüdinnen rettet. Vor diesem Genie verbeugt sich die kühle und gründlich mißtrauische Tochter. In der Erinnerungsarbeit Statur gewinnend, wird sie zur Tochter ihres Vaters. Obwohl sie sich der Ordnung gemäß als Jüdin fühlt - „Ist die Mutter Jüdin, sind die Kinder Juden“. Obwohl sie ihr Jurastudium abgebrochen hat, weil sie sich nicht vorstellen konnte, „irgend jemanden in Deutschland zu verteidigen“. Obwohl sie erklärt: „Jüdisch und deutsch. Eine irrsinnige, eine blödsinnige, eine völlig meschuggene Mischung.“

Man erlebt die Rückverwandlung des mäßig erfolgreichen Vertreters für Brillengestelle, der am Freitagnachmittag von der Verkaufsfahrt nach Hause kommt, in den Helden dieser unglaublichen Geschichte. Denunziation und Strafkompanie, „Rassenschande“ und Konzentrationslager stehen am Anfang. Die Vernichtung Hamburgs im Sommer 1943 verlagert sie nach Krakau und beschert ihr, nur wenige Kilometer von Auschwitz entfernt, eine Zeit des Glücks. „Manchmal war es diesem Mann und dieser Frau, die später ihre Eltern geworden waren, gutgegangen, richtig gut, und ausgerechnet in Polen. Wie konnte es ihnen gutgehen? Um welchen Preis?“ So fragt die Erzählerin, aus einer Ohnmacht erwachend, in Panik, hat sie doch gerade gehört, daß ihr Vater „Verbindungsmann zum Wirtschaftsverwaltungshauptamt Zweigstelle Krakau“ gewesen war, Verbindungsmann einer Firma, die sich am Besitz der deportierten Juden bereicherte.

Was sie dann erfährt, im Kreis ehemaliger polnischer Widerständler, die sich nach über vierzig Jahren noch gut erinnern, über die unprätentiöse und listige Menschlichkeit ihres Vaters, den Einbruch im Krakauer Präsidium, um einen Stempel zu erbeuten, den Schleichhandel im großen Stil, für den selbst Lastwagen kein Problem sind, die Rückkehr der Frauen in den Westen, während die Züge mit deportierten Juden entgegenkommen, wischt alle Schatten und Zweifel weg.

Ihre Mission ist erfüllt. Ohne Auschwitz zu besuchen, kehrt die Tochter nach Hamburg zurück. Jetzt kann sie die Totenrede halten und ihren Vater preisen, den einzigen Gerechten unter den Deutschen. Auch ein Text des Vaters findet da seinen Platz. „Sie hatte ihn so oft gelesen, sie konnte ihn auswendig.“ Er handelt von den Torturen der Strafkompanie und beginnt mit einem doch unerlaubten Vergleich, der sie lange beunruhigt hatte: „Es war in vielen Dingen der Hölle der Konzentrationslager vergleichbar.“ Jetzt wird dieser Vergleich zugelassen. Acht Monate Strafkompanie heißt ja auch: Paul wußte, was ihn erwartete, und er wagte trotzdem alles.

Daß die Tochter ihre Rede dann doch nicht hält, weil sie während der Bestattungsfeier an das Bügeleisen denken muß, das sie womöglich nicht ausgemacht hat, zeigt, wie Viola Roggenkamp das Pathos, das sich da zusammengeballt hat, unterläuft. Auch sonst hat sie für allerlei Zutaten gesorgt, die das Erinnerungstableau nicht übermächtig werden lassen, darunter Unfall, Fahrerflucht und einen dabei zu Schaden gekommenen Soldaten, der sich freilich als quicklebendig erweist. Erzählerisch liegt ihr der Alltag. Zwar kann sie auch ganz anders, es gibt eine geradezu expressionistische Passage über den Untergang Hamburgs, ferner Traumsequenz und narratives Eindringen in Bewußtseinsströme. Durchweg aber herrscht ein behendes Parlando, elliptisch, etwas atemlos, nicht lange fackelnd. Die Sprache einer hanseatisch-jüdischen Juristin eben. Daß sie ihre Totenrede nicht hält, hat auch einen Vorteil: Sie steht statt dessen als fesselnder Roman auf dem Papier.

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Familienerbe und Tochterliebe

Rezension Monika Melchert – Sächsische Zeitung

Nicht die Geschichte eines Helden, sondern eines Mannes, der Angst hat, der verzweifelt ist und den seine ausweglos erscheinende Lage zu den abenteuerlichsten und waghalsigsten Unternehmungen antreibt: Eindringen ins Reichssicherheitshauptamt der Gestapo in der berüchtigten Prinz-Albrecht-Straße, Fälschung von Kennkarten, ohne die man sich nirgends ungestraft aufhalten durfte. So viele grandiose Episoden, daß der Roman gut für eine Filmstory wäre. Viola Roggenkamp ist eine feinsinnige, dabei temperament- und humorvolle Erzählerin, der sich viele Einzelheiten zur spannenden Szene runden. Das konnte man erst jüngst wieder in ihrem Roman „Die Frau im Turm“ über das Schicksal der Gräfin Cosel erfahren. Der Titel des neuen Buches ist nicht zufällig gewählt: Tochter und Vater. Denn vor allem will die Tochter über ihr Verhältnis zum Vater herausfinden. Jetzt, da er tot ist, fühlt sie, ihrem Vater wie nie zuvor im Leben nahe zu sein. Sie nimmt, als sie das letzte Mal mit ihm sprechen kann, sein Taschentuch an sich, dieses große, weiße, sauber zusammengefaltete Männertaschentuch, das ihr fortan als Beistand dient, wenn sie sich auf die Spurensuche begibt, tief in seine Vergangenheit hinein. Dem großen Erzählvermögen von Viola Roggenkamp sind unvergeßliche Episoden über wundersame menschliche Beziehungen zu verdanken.

Pauls Coup

Rezension von Jürgen Verdofsky – Frankfurter Rundschau

Und bitte keine Reden“, wünscht sich der sterbende Paul. „Was zu sagen wäre, könne sowieso nicht gesagt werden.“ Aber eine Geschichte, die nicht erzählt wird, geht verloren – am Ende hat sie sich nicht einmal ereignet. Doch ein Geschehen, das nicht nur vor dem Hintergrund des Schreckens zu begreifen ist, sondern auch vor dem Wagemut eines Einzelnen innehalten läßt, verweigert sich jeder Vereinfachung.

Auch ist keine Beschwichtigung zu erwarten, wenn die Erzählerin Viola Roggenkamp heißt und die feste Geschichte durch biographische Einschlüsse legitimiert wird. In ihrem ersten Roman „Familienleben“ erzählt sie vom Leben einer deutsch- jüdischen Familie nach der Schoa mit dem Blick einer pubertierenden Nachgeborenen. In ihrem neuen Roman „Tochter und Vater“, bleibt alles in der Familie. Die inzwischen gut vierzigjährige Tochter will in ihrer Trauerrede vor Juden und Nichtjuden auch das Verschwiegene benennen.

1937 wird Paul aus der Strafkompanie entlassen. Das Militärgericht hatte auf „Verächtlichmachung“ der Wehrmacht befunden. Nach diesem Verdikt steht er völlig außerhalb der aufstrebenden Nazi-Gesellschaft. Aber daß er sich bei zwei Jüdinnen, Mutter und Tochter, in Hamburg einmietet, wird zum lebensbestimmenden Zufall. Paul verliebt sich in die 17jährige Alma. Das junge Paar wird wegen „Rassenschande“, wie eines  der größten Unworte der NS-Rechtsverwüstung hieß, in das KZ Fuhlsbüttel eingeliefert. Nachdem die Gestapo beiden ein Trennungsgelübde abgepreßt hat, kommen sie noch einmal frei. Aber was ist das für eine Freiheit.

Alma und ihre Mutter Hedwig Glitzer sind nicht nur zunehmender Entrechtung, sondern auch mörderischer Gefährdung ausgesetzt. Paul wird aus Liebe und innerem Anstand beide retten. Ein sensibler Nichtkonformist, der seinem Umfeld als lebensuntüchtig gilt. „Paul, der Schlappschwanz“, nennen ihn seine ahnungslosen Kameraden. Und dieser Mann wird inmitten der Ausmordung der europäischen Judenheit mit Charakter und Charisma, Courage und Chuzpe zu einem der wenigen Gerechten unter den Deutschen. Zwei Jüdinnen zu retten, ihnen zu folgen bis ans Ende der Welt, das ist ein ganzes Leben über dem Abgrund moralischer Extreme. Mehr kann ein Einzelner nicht tun.

Für die Tochter heißt das, wie weit darf sie sich diesem Verhängnis an Prüfungen nähern? Wo ist das Verschwiegene in der memorierten Rettungslegende. War der Vater versucht, vor der Größe der Aufgabe zu verzagen? Wie weit darf man sich mit notgewachsener List und Camouflage in das Umfeld der Täter begeben? Die Zeit vergeht, die Fragen nicht.

Roggenkamp beschreibt eindringlich Momente der Bedrohung, trifft Schnappschüsse des Unheils. Paul ist ein Getriebener, immer auf der Suche nach Schutz für die beiden Jüdinnen. Er versucht ein camoufliertes Alltagsleben im besetzten Polen. In Krakau lebt er in ungemütlicher Nachbarschaft mit den Tätern im Bannkreis der Konzentrationslager, nach Auschwitz sind es 60 km. Angestellt ist er bei einer der vielen deutschen Firmen, die den letzten Besitz der Deportierten verwerten. Paul ist ein Wissender, umgeben von Männern, die sich an den jüdischen und polnischen Opfern bereichern. (...) Stempelpapiere aus dem Hauptquartier der Judenmörder, das bleibt Pauls gewagtester Coup. Aber es kommen noch andere riskante Aktionen.

In der Nachkriegszeit gelingen den alten Kameraden, diesen Tätern im Halb-dunkel, neue Karrieren, während Paul sich als Vertreter für Brillengestelle durchschlägt. Die Energie des Retters ist verbraucht. Auch an Kraft für väterliche Hilfe wird es fehlen, seine Zuwendung ist eine andere. Die Tochter versteht, wie sehr das Leben der Vorangegangenen zu einem selbst gehört, wenn es so bedrängt war. Der Abschied vom sterbenden Vater eröffnet nicht nur den Roman, es ist sein humaner wie literarischer Kern.

Viola Roggenkamp bewahrt sich bei ihrem Lebensthema den Gestus der Suchenden, die immer wieder neu ansetzt mit erhellendem Zugriff. Ihre Technik der metaphorischen Verzweigungen hat sich verfeinert. Sie erzählt experimentell, setzt Gesetze des Erzählflusses außer Kraft, die Überblendungen haben Filmtempo. Nicht alle Szenen erreichen die literarische Höhe des großen Traummonologs vor den Toren von Auschwitz. Häufiger überprüft Viola Roggenkamp die Richtung ihres Erzählens, um am Ende, wie nach einer Selbstüberwindung, jede literarische Zuspitzung abzubrechen. Die Trauerrede wird nicht gehalten, zum Gedächtnis wird das Buch.

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