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Familienleben“ übersetzt:

The Spectacle Salesman’s Family“

Virago Press, London 2007

Translated by Helena Ragg-Kirkby


Vita di famiglia“

Arnoldo Mondadori, Editore

S.p.A Milano, Italia, 2005

Traduzione di Silvia Orsi


Familjeleve“

Mouria Amsterdam, 2005

Nederlandse vertaling

Jan Gielkens














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Familienleben

Roman

448 Seiten

Arche Literatur-Verlag Zürich-Hamburg, 2004

S. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2005


Erinnerte Gegenwart

Roland H. Wiegenstein – Berliner Literaturkritik

Meine Mutter kommt, um die Nacht zu zerreißen.“ So poetisch beginnt ein weibliches Ich zu erzählen, als es an diesem Frühlingstag die Augen aufschlägt. (...) Die Autorin hat einen Roman über die Schwierigkeiten privaten jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Holocaust geschrieben, sie hat ihre eigenen Erinnerungen in die Fanias verwandelt, beschreibt Schrecken, Glück, und das, was Familie sein könnte, häufig jedoch nicht ist. (…) Was man zunächst für eine der vielen wahren Geschichten halten könnte, die erst im Abstand von einem halben Jahrhundert erzählt werden können und müssen, erweist sich von Seite zu Seite mehr als Kaddisch eines halben Kindes, das denen Ehre antut, die vorher waren. Es wächst in einer Zeit danach auf, die dennoch heillos versehrt bleibt. Für mehr als nur fünfzig Jahre. Das Buch hat die höhere Wahrheit eines Märchens und eines Rituals. Daß es von einer Dreizehnjährigen vollzogen wird, die mit Lust fröhlich ist, Heißhunger auf Schokolade hat, ihre Umwelt mit einem unfehlbaren Sinn für die Komik von Menschen und Situationen betrachtet, macht diesen Roman außerordentlich, zu einem Zeugnis sanften, manchmal jäh ausbrechenden Schreckens. (…) Das ist Roggenkamps Methode. Es ist ihre Kunst. Wie sagt Fania? „Ein Berg von Geschichten. Ich trage die Schichten ab. Meine Mutter ist eine Geschichtenerzählerin, sie malt mir Bilder ins Ohr. Ich halte mein Herz an, um ihres schlagen zu hören, ich taste mich lautlos durch ihr heimliches Leben.“ Die Selbstbeschreibung einer klugen Autorin und ihres wunderbaren Buches.




Psychoanalytische Betrachtungen zum Roman „Familienleben“


von Edda Uhlmann

Psychoanalytikerin


Fania, die Protagonistin in Viola Roggenkamps Roman Familienleben, eine Dreizehnjährige, schreibt nicht, wie man schreiben soll. Sie schreibt Muttersprache im buchstäblichen Sinn des Wortes. Was vom mütterlichen Mund in ihr Ohr dringt, schreibt sie dem Klang nach auf, sie überträgt den Klang in einen Wortkörper, der, aufgeschrieben, den anderen fremd erscheint. Manchmal erschließen sich ihre Wörter erst durch lautes Aussprechen, also durch Rückverwandlung in Klang. Fanias geschriebene Wörter sind noch nicht zu symbolischen Zeichen geworden, ihre Wörter sind in dem Sinn Muttersprache, als sie noch in unmittelbarer Verbindung zur körperlich anwesenden Mutter stehen. Es sind Wortgebilde, Wortkörper, Körperwörter, die nicht den Regeln der Recht-Schreibung entsprechen, als hätten die grammatikalischen Gesetze keinen Platz zwischen Mutter und Tochter.

Mit dem Symptom der Rechtschreibschwäche wird in diesem Roman eine noch nicht ausreichend vollzogene Trennung zwischen Mutter und Tochter zur Darstellung gebracht. Dieser individuellen Problematik, Fanias Versuch, einen Weg für sich zu finden zwischen einer Identifizierung mit dem Mütterlich-Weiblichen und gleichzeitiger Differenzerung von der leiblichen Mutter, webt die Autorin die Folgen des traumatischen historischen Kontextes, der Bedrohung und Vernichtung der europäischen Judenheit, ein, und zwar sowohl psychologisch wie auch literarisch in sehr überzeugender Weise.

Die Familie ist deutsch-jüdisch, der Vater hat die beiden Jüdinnen, Fanias Mutter und Großmutter, während der Nazizeit vor der Vernichtung gerettet. Diese Überlebensgeschichte erfahren die Leser nur bruchstückhaft, denn es geht der Autorin darum, dem jungen Mädchen Fania als Vertreterin der Nachgeborenen eine Stimme zu geben. In einem Zeitfenster von einigen Monaten – der aktuell-politische Hintergrund sind der Sechs-Tage-Krieg in Israel und die Studentenunruhen in Deutschland – werden wichtige Entwicklungsschritte von Fania verdichtet: Die Überwindung der Rechtschreibschwäche und ein Sichfinden im eigenen Körper, die lang ersehnte Menstruation, die Entdeckung des Begehrens in der Begegnung mit der Mutter einer Freundin, die als Nicht-Jüdin klar die Andere und deshalb eindeutig von der eigenen Mutter und deren Körper zu differenzieren ist und so zum Spiegel für das eigene Begehren werden kann.

Das Familienklima ist geprägt von Angst vor denen draußen und einer liebevollen, aber auch sinnlich-überhitzten Treibhausatmosphäre nach innen. Trennung ist nicht vorgesehen, und allen unvermeidlichen Trennungsbewegungen der Töchter begegnen die Eltern angstvoll und mißtrauisch. Trennung kann nur ausgehalten und im Symbolischen aufgehoben werden, wenn es die Erfahrung und die Sicherheit des Wiederfindens gibt. Hätte sich Fanias Mutter von ihrer eigenen Mutter getrennt, um mit ihrem nichtjüdischen Geliebten davonzugehen, hätte sie diese der Ermordung ausgeliefert. Die Schoa, die massenhafte Vernichtung der Juden in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, ist eine Realität, die auch das Symbolische nicht unbeschadet gelassen hat. Die Folgen davon reichen weit in die nächsten Generationen hinein. In diesem Roman braucht die Familie bei unvermeidlichen Trennungen besondere Abschiedsrituale. Dabei muß das Wort selber vollständig sein. Es muß ›Auf-Wieder-Sehen‹ heißen. Ein verkürztes Abschiedswort wie ›Tschüs‹ wäre eine Verletzung des Rituals, das Wort selber würde die Gefahr des Auseinandergerissenwerdens ohne sich wiederfinden zu können heraufbeschwören.

In der Schule werden Fanias Wortkörper vom Lehrer an die Tafel geschrieben. Das wird für Fania zur Bloßstellung, denn sie wird zu dem Mädchen, das vor dem Mann und im Vergleich zu allen anderen Mädchen etwas noch nicht kann. Auf einer weiteren Ebene wird die Schreibschwäche Fanias zum Zeichen für den tiefen Bruch zwischen Drinnen und Draußen. Drinnen ist das jüdische Familienleben, verborgen und geschützt vor denen draußen, die versucht hatten, jüdisches Leben überhaupt auszulöschen. Und wenn Fanias Wörter an der Tafel wie am Pranger stehen, dann ist sie nicht nur das junge Mädchen, das noch nicht soweit ist wie die anderen, sondern sie ist auch die Jüdin, die einer latenten Pogromstimmung ausgesetzt ist. In Fanias Erinnerung begann ihre Schwierigkeit mit dem Schreiben durch Rückwärtslesen: Zur Strafe für Unaufmerksamkeit befahl ihr ein Lehrer, rückwärts zu lesen, und sie löste die Wörter auf, las Buchstabe für Buchstabe rückwärts, aus Haarschleife wurde Efielschraah. Alle anderen in der Klasse schienen verstanden zu haben, daß Wort für Wort und nicht Buchstabe für Buchstabe gemeint war. Beschämt vor den anderen und dem Zorn des Lehrers ausgeliefert, taucht auf, worum Fania selber noch nicht genau weiß und was überdies zu ihren Wurzeln gehört: das Hebräische, eine Sprache, die von rechts nach links geschrieben und gelesen wird. Ihr Anderssein, ihr Jüdischsein, das sie noch gar nicht richtig in Besitz nehmen und draußen zeigen darf, verschafft sich auf diesem Schmuggelpfad einen ersten Ausdruck. So wird draußen, in der Welt, das Symptom der Schreibschwäche auch zum Zeichen für die Differenz. Im Laufe des Romans findet Fania ein anderes Zeichen für ihre Differenz zu den anderen Mädchen, ein von ihr aktiv gewähltes, nämlich die Fliege des Vaters. Jetzt hat sie einen roten Streifen um ihren Hals, und bald darauf verschwinden die roten Striche im Aufsatzheft.

Fanias Schreibschwäche benennt auf metaphorischer Ebene eine generelle Beschädigung der deutschen Sprache, vor dem Hintergrund der Schoa den Verlust des Symbolcharakters. Parallel zur realen Vernichtung der jüdischen Menschen gab es ein Auslöschen des Jüdischen in der Sprache. So wie Fania immer und überall mit feinsten Antennen die Menschen erforschen muß, so mit ihrer Zunge die Wörter. Aber das Deutsche ist eben auch Muttersprache. Das Geliebte und Vertraute ist das Beschädigte und Zerstörte, das Zerstörerische und die Auflösung der menschlichen Ordnung. Hier kommt es zusammen, und Viola Roggenkamp findet einen literarischen Ausdruck dafür. So ist auch Fanias innere Stimme zu verstehen, die über das hinausführt, was eine Dreizehnjährige formulieren könnte. In traumatisierten Familien versuchen die Kinder, Unaussprechbares, innere Beschädigungen der Eltern, aufzuspüren, um sich in der inneren Welt ihrer Eltern zurechtzufinden, vielleicht etwas zu reparieren. Dadurch sind sie immer schon älter, reifer, als sie ihrem Alter nach eigentlich sind. So auch Fania. Ihrer Kindlichkeit steht ein viel zu großes Wissen, eine viel zu große Last gegenüber. »Daß ich nicht schreiben kann, liegt an der Unordnung. Die Unordnung kommt von außen in mich hinein, sie stapelt sich in mir auf, das werde ich nie sortieren können, dahinter bin irgendwo ich« (S. 275) Die nicht aufhebbare Unordnung, die das Trauma in der Seele der Eltern hinterlassen hat, geht auf die Nachgeborenen über. Die Psychoanalytikerin Haydée Faimberg nennt dieses Phänomen ‚telescoping‘. Dabei schiebt sich die sogenannte erste Generation mit ihrem Erleben in das der folgenden Generation hinein. Bei der zweiten Generation führt dies zu einer zwangsläufigen dauerhaften Beschäftigung mit dem Trauma der Eltern, zu einem unausweichlichen Angekettetsein an die elterliche Geschichte, die intrapsychisch die reale eigene Lebenszeit teilweise überlagern und manchmal sogar auslöschen kann.

Wie in vielen Szenen in diesem Roman gestaltet die Autorin auch in der Schwimmbadszene im zweiten Kapitel ein zeitliches ‚telescoping‘, indem die für die Beschreibung der aktuellen Situation verwendeten Wörter zugleich bruchstückhaft eine andere Zeit und die damit einhergehende Bedrohung wachrufen: die gekachelte Umgebung, die Trillerpfeife der Lehrerin, deren drängendes Hopp, Hopp, und auf seiten der Mutter ihr vehementer Einspruch gegen den Kopfsprung, was zunächst nur wie eine skurile Geste der Überbehütung aussieht, doch immer mehr zu einem heldinnenhaften Versuch wird, sich einer Lebensbedrohung entgegenzustellen. Es ist die immerwährende und generationenübergreifende Präsenz des Traumas, die hier zum Ausdruck kommt. Der Satz der Mutter „In unserer Familie springt niemand“ unterbricht abrupt die aktuelle Szene, und der nächste Satz „Aus ihrem Gesicht war etwas herausgefallen ins Zeitlose, und ich trage ihr Abbild in mir“, ist der Auftakt für eine Abfolge innerer Bilder Fanias, worin das Traumatische aus dem Leben der Mutter vorrübergehend bei der Tochter zu einer Aufhebung der Subjekt-Objekt-Trennung und zu einer Verwirrung am Rand des Selbstverlustes führt.

Dieses nicht mehr Auseinanderhaltenkönnen von Ich und Du setzt Viola Roggenkamp an dieser Stelle um in eine bewegende lyrische Prosa, mit deren an Celans Todesfuge erinnernden Rhythmus es ihr gelingt, das Traumatische in seiner unentrinnbaren Präsenz zu transformieren. Die Autorin verarbeitet etwas für uns, ihre Leserinnen und Leser können das Erschütternde des Traumas noch wahrhaben, ohne davon selbst überschwemmt zu werden. Im Laufe des Romans wird Fania in sich zu ersten wichtigen Trennungsschritten von der Mutter finden, und damit sich selbst als Subjekt hervorbringen, als weibliches Subjekt, das im eigenen Körper zu Hause ist wie auch in der Schrift, der Schrift als dem vom Körper losgelösten Wort.

( erschienen 2006 in: Freiburger Literaturpsychologische Gespräche, Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse , Band 25; hrsg.: Wolfram Mauser und Joachim Pfeiffer; Verlag Königshausen & Neumann)

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(Auszug)

Viola Roggenkamp zeichnet ein Familienleben, wie es wohl nur in Deutschland möglich sein konnte. Vom Krieg traumatisiert, unter den ehemaligen Tätern lebend, im besonderen mit Israel verbunden. Durch die scheinbar einfache Geschichte einer 13-jährigen wird die ganze Komplexität jüdischen Lebens in Deutschland gezeigt. Ein Roman, der nicht nur berührt, sondern der auch verstehen läßt.