Roland H. Wiegenstein Berliner
Literaturkritik Anfragen für Lesungen: Auszug aus einem Essay von Edda Uhlmann Psychoanalytikerin Hamburg vollständig erschienen
2006 in: Freiburger
Literaturpsychologische Gespräche Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse Band 25 hrsg.: Wolfram Mauser und Joachim Pfeiffer Verlag Königshausen & Neumann „Familienleben“ übersetzt: „The Spectacle Salesman’s Family“ Virago Press, London 2007 Translated by Helena Ragg-Kirkby „Vita di famiglia“ Arnoldo Mondadori, Editore S.p.A Milano, Italia, 2005 Traduzione di Silvia Orsi „Familjeleve“ Mouria
Amsterdam, 2005 Nederlandse
vertaling Jan
Gielkens hagalil.com
(Auszug) |
Familienleben
Roman 448 Seiten Arche Literatur-Verlag
Zürich-Hamburg, 2004 – 23 € Fischer Taschenbuch Verlag,
Frankfurt a. M. 2005 – 9.90 Erinnerte Gegenwart „Meine
Mutter kommt, um die Nacht zu zerreißen.“ So poetisch beginnt ein weibliches
Ich zu erzählen, als es an diesem Frühlingstag die Augen aufschlägt. (...)
Die Autorin hat einen Roman über die Schwierigkeiten privaten jüdischen
Lebens in Deutschland nach dem Holocaust geschrieben, sie hat ihre eigenen
Erinnerungen in die Fanias verwandelt, beschreibt Schrecken, Glück, und das,
was „Familie“ sein könnte, häufig jedoch nicht ist. (…) Was man zunächst für
eine der vielen wahren Geschichten halten könnte, die erst im Abstand von
einem halben Jahrhundert erzählt werden können und müssen, erweist sich von
Seite zu Seite mehr als Kaddisch eines halben Kindes, das denen Ehre antut,
die vorher waren. Es wächst in einer Zeit danach auf, die dennoch heillos
versehrt bleibt. Für mehr als nur fünfzig Jahre. Das Buch hat die höhere
Wahrheit eines Märchens und eines Rituals. Daß es von einer Dreizehnjährigen
vollzogen wird, die mit Lust fröhlich ist, Heißhunger auf Schokolade hat,
ihre Umwelt mit einem unfehlbaren Sinn für die Komik von Menschen und
Situationen betrachtet, macht diesen Roman außerordentlich, zu einem Zeugnis
sanften, manchmal jäh ausbrechenden Schreckens. (…) Das ist Roggenkamps
Methode. Es ist ihre Kunst. Wie sagt Fania? „Ein Berg von Geschichten. Ich
trage die Schichten ab. Meine Mutter ist eine Geschichtenerzählerin, sie malt
mir Bilder ins Ohr. Ich halte mein Herz an, um ihres schlagen zu hören, ich
taste mich lautlos durch ihr heimliches Leben.“ Die Selbstbeschreibung einer
klugen Autorin und ihres wunderbaren Buches. ◊◊◊ Über den Roman „Familienleben“ Fania,
die Protagonistin in Viola Roggenkamps Roman Familienleben, eine Dreizehn-jährige, schreibt nicht, wie man
schreiben soll. Sie schreibt Muttersprache im buchstäblichen Sinn des Wortes.
Was vom mütterlichen Mund in ihr Ohr dringt, schreibt sie dem Klang nach auf,
sie überträgt den Klang in einen Wortkörper, der, aufgeschrieben, den anderen
fremd erscheint. Manchmal erschließen sich ihre Wörter erst durch lautes
Aussprechen, also durch Rückverwandlung in Klang. Fanias geschriebene Wörter
sind noch nicht zu symbolischen Zeichen geworden, ihre Wörter sind in dem
Sinn Muttersprache, als sie noch in unmittelbarer Verbindung zur körperlich
anwesenden Mutter stehen. Es sind Wortgebilde, Wortkörper, Körperwörter, die
nicht den Regeln der Recht-Schreibung entsprechen, als hätten die
grammatikalischen Gesetze keinen Platz zwischen Mutter und Tochter. Mit
dem Symptom der Rechtschreibschwäche wird in diesem Roman eine noch nicht
ausreichend vollzogene Trennung zwischen Mutter und Tochter zur Darstellung
gebracht. Dieser individuellen Problematik, Fanias Versuch, einen Weg für
sich zu finden zwischen einer Identifizierung mit dem Mütterlich-Weiblichen
und gleichzeitiger Differenzierung von der leiblichen Mutter, webt die
Autorin die Folgen des traumatischen historischen Kontextes, der Bedrohung
und Vernichtung der europäischen Judenheit, ein, und zwar sowohl
psychologisch wie auch literarisch in sehr überzeugender Weise. (...) Der
Autorin geht es darum, dem jungen Mädchen Fania als Vertreterin der
Nachgeborenen eine Stimme zu geben. In einem Zeitfenster von einigen Monaten
– der aktuell-politische Hintergrund sind der Sechs-Tage-Krieg in Israel und die Studentenunruhen in
Deutschland – werden wichtige Entwicklungsschritte von Fania verdichtet: Die
Überwindung der Rechtschreibschwäche und ein Sichfinden im eigenen Körper,
die lang ersehnte Menstruation, die Entdeckung des Begehrens in der Begegnung
mit der Mutter einer Freundin, die als Nicht-Jüdin klar die Andere und deshalb
eindeutig von der eigenen Mutter und deren Körper zu differenzieren ist und
so zum Spiegel für das eigene Begehren werden kann. Das
Familienklima ist geprägt von Angst vor denen draußen und einer liebevollen,
aber auch sinnlich-überhitzten Treibhausatmosphäre nach innen. Trennung ist
nicht vorgesehen, und allen unvermeidlichen Trennungsbewegungen der Töchter
begegnen die Eltern angstvoll und mißtrauisch. Trennung kann nur ausgehalten
und im Symbolischen aufgehoben werden, wenn es die Erfahrung und die
Sicherheit des Wiederfindens gibt. Hätte sich Fanias Mutter von ihrer eigenen
Mutter getrennt, um mit ihrem nichtjüdischen Geliebten davonzugehen, hätte
sie diese der Ermordung ausgeliefert. Die Schoa, die massenhafte Vernichtung
der Juden in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, ist eine Realität, die
auch das Symbolische nicht unbeschadet gelassen hat. Die Folgen davon reichen
weit in die nächsten Generationen hinein. (...) Fanias Schreibschwäche
benennt auf metaphorischer Ebene eine generelle Beschädigung der deutschen
Sprache, vor dem Hintergrund der Schoa den Verlust des Symbolcharakters.
Parallel zur realen Vernichtung der jüdischen Menschen gab es ein Auslöschen
des Jüdischen in der Sprache. So wie Fania immer und überall mit feinsten
Antennen die Menschen erforschen muß, so mit ihrer Zunge die Wörter. Aber das
Deutsche ist eben auch Muttersprache. Das Geliebte und Vertraute ist das
Beschädigte und Zerstörte, das Zerstörerische und die Auflösung der
menschlichen Ordnung. Hier kommt es zusammen, und Viola Roggenkamp findet
einen literarischen Ausdruck dafür. (...) Die Autorin verarbeitet etwas für
uns, ihre Leserinnen und Leser können das Erschütternde des Traumas noch
wahrhaben, ohne davon selbst überschwemmt zu werden. Im Laufe des Romans wird
Fania in sich zu ersten wichtigen Trennungsschritten von der Mutter finden,
und damit sich selbst als Subjekt hervorbringen, als weibliches Subjekt, das
im eigenen Körper zu Hause ist wie auch in der Schrift, der Schrift als dem
vom Körper losgelösten Wort. ◊◊◊ Viola Roggenkamp zeichnet ein
Familienleben, wie es wohl nur in Deutschland möglich sein konnte. Vom Krieg
traumatisiert, unter den ehemaligen Tätern lebend, im besonderen mit Israel
verbunden. Durch die scheinbar einfache Geschichte einer 13-jährigen wird die
ganze Komplexität jüdischen Lebens in Deutschland gezeigt. Ein Roman, der
nicht nur berührt, sondern der auch verstehen läßt. |
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